Speech · 29.08.2003 Bürgerversicherung im Gesundheitswesen
Wer sich Hoffnungen gemacht hat, dass die Krise der Gesetzlichen Krankenversicherung jetzt endlich den Druck zu wirklichen Reformen des Gesundheitswesens bringen würde, sieht sich wieder einmal enttäuscht. Spätestens seit den Konsensgesprächen in Berlin ist klar, dass - wie bei den letzten Gesundheitsreformen - einmal mehr die Patienten die Verlierer sind. Innovative Ansätze in der Gesundheitspolitik wurden beerdigt. Statt dessen dürfen die Patientinnen und Patienten die Suppe auslöffeln. Deshalb mutet Punkt 1 des CDU-Antrages auch wie Hohn an. Im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stand und steht der Patient, schreibt der Kollege Kalinka. Richtiger wäre es, hinzuzufügen: Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Interesses des Gesundheitswesens steht der Patient.
Denn was hat die CDU in der Reformdebatte erreicht? - Die Leistungsanbieter und die Pharmaindustrie können weiter machen wie bisher. Dabei spielen gerade sie eine nicht unbeträchtliche Rolle bei den Kostensteigerungen, weil sie die Nachfrage nach ihren eigenen Dienstleistungen zum Teil selbst steuern können. Wichtige Reformen wie die Einführung einer Positivliste für Arzneimittel oder der Einstieg in ein primärärztliches Versorgungssystem, von Experten seit langem gefordert, bleiben wieder auf der Strecke.
Die CDU hat es einmal mehr geschafft, eine anständige Modernisierung der Versorgungsstrukturen zu verhindern; die kostentreibende Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen bleibt offensichtlich unangetastet. Vergessen scheint die Erkenntnis des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, dass den im internationalen Vergleich hohen Ausgaben in Deutschland nur mittelmäßige Leistungen gegenüberstehen. Die festgestellten Über- Unter- und Fehlversorgungen werden durch eine einseitige Belastung der Versicherten nicht wesentlich angetastet.
Dabei gibt es schon viele Ansätze für eine grundlegende Strukturreform im Gesundheitswesen. Sie scheitern nur seit Jahren in den Reformverhandlungen, weil die Gesundheitspolitik dem Einfluss der Beteiligten zu wenig entgegen zu setzen hat. Seit Jahren wird von politischer Seite mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen gefordert, besonders weit gekommen sind wir nicht.
Die Einführung marktwirtschaftlicher Instrumente im Gesundheitswesen hat ganz bestimmt ihren Charme und muss sein. Man sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, dass der Wettbewerb allein die Kosten im Gesundheitswesen senken wird. Denn wir haben es letztlich nur mit einem Quasi-Markt zu tun. Die Nachfrage nach konkreten Leistungen wird nicht zuerst durch die Kunden, den Patientinnen und Patienten, bestimmt, sondern durch ihre Ärzte. Daher ist eine gesundheitspolitische Steuerung der Rahmenbedingungen notwendig. Eben deshalb sind auch Instrumente wie die Positivliste, die Lotsen-Funktion der Hausärzte usw. entwickelt worden. Sie wurden aber sofern sie in der Diskussion überhaupt eine Rolle spielten - , bisher immer zu Fall gebracht. Im ambulanten Bereich hat die Lobby der niedergelassenen Ärzte es erfolgreich verstanden, neue Strukturen wie die fachärztliche Versorgung in Ambulatorien zu verhindern, obwohl diese volkswirtschaftlich sinnvoll wäre und keine schlechtere Qualität für die Patienten bringt. Man hat im Gegenteil dafür gesorgt, dass entsprechende Strukturen in der DDR nach der Wiedervereinigung schnell zerschlagen wurden, um keine unliebsame Konkurrenz durch die Polikliniken zu bekommen.
In dem, was von der aktuellen Gesundheitsreform übrig geblieben ist, ist wenig von sinnvoller politischer Steuerung übrig geblieben. Was noch da ist, zielt bezeichnenderweise wieder einmal auf die Patienten ab. Selbstverständlich macht es Sinn, beim Verbraucher das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Kosten er durch die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens verursacht.
Es ist altbekannt, dass die Deutschen durch besonders häufige Arztbesuche auffallen. Durch die Praxisgebühr lassen sich aber nicht unbedingt jene abschrecken, die regelmäßig unnötigerweise zum Arzt laufen. Die obligatorische Gebühr von 10 Euro pro Quartal ist falsch; sie könnte leicht einen unbeabsichtigten Effekt bekommen: Menschen mit niedrigem Einkommen werden trotz Krankheit durch die Gebühr abgeschreckt, was eher zu höheren Ausgaben führt.
Wir hätten es statt dessen begrüßt, wenn die Gebühr zur Steuerung im Sinne einer primären hausärztlichen Versorgung genutzt worden wäre, so wie die Bundesgesundheitsministerin es ursprünglich angedacht hatte eine Gebühr als Anstoß dazu, als erstes den Hausarzt zu konsultieren, statt aufgrund einer eigenen Diagnose gleich den Facharzt aufzusuchen. So hätten die Patienten einen Anreiz bekommen, durch kostensparendes Verhalten die Praxisgebühr zu vermeiden.
Der SSW ist gegen die Privatisierung von Gesundheitskosten. Die Absicherung von grundlegenden Lebenslagen und Risiken wie Krankheit, Alter, Behinderung und Unfällen muss Aufgabe der Solidargemeinschaft bleiben. Es geht in der Gesundheitspolitik nicht nur um die Frage, was wir mit unserem heutigen Gesundheitswesen leisten können, oder wie wir die Lohnnebenkosten senken. Dieses sind zwar zentrale Anliegen, aber die große Herausforderung der Gesundheitspolitik ist vor allem die Antwort auf Frage, wie das Gesundheitswesen eingerichtet sein muss, um die Solidarität zu erhalten. Kaum jemand stellt noch offen die Frage, wie viel uns allen die solidarische Verantwortung für die Gesundheit und das Schicksal anderer wert ist. Über die Jahre hinweg - und nicht zuletzt durch das Zutun der Berliner Opposition - lautet die Maxime in der Gesundheitspolitik zunehmend: jeder ist sich selbst am nächsten.
Wenn man sich den bisherigen Verlauf der aktuellen Gesundheitsreform Revue passieren lässt, dann fällt eines besonders auf: Die Rolle der CDU ist verheerend gewesen. Demgegenüber ist der heutige Antrag direkt harmlos. Fast schon könnten wir dem Unionsantrag zustimmen, weil er überwiegend unschädliche Allgemeinplätze beinhaltet - wäre da nicht die Überschrift und der erste Satz. Denn der SSW lehnt eine Einführung einer Bürgerversicherung im Gesundheitswesen mit Sicherheit NICHT ab. Wir meinen, dass eine Bürgerversicherung, in der alle in Deutschland solidarisch die Gesundheitsversorgung finanzieren, die richtige Perspektive ist.
Die gesetzliche Krankenversicherung leidet - wie alle anderen Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland - unter den hoffnungslos zersplitterten Strukturen, die die Kosten unnötig in die Höhe treiben. Wir geben der CDU recht, dass Sozialhilfeempfänger auch in der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden sollten. Wir meinen nur, dass dieses auch für Beamte, Selbständige und Abgeordnete gelten muss und dass die Beiträge auf alle Einkommensarten erhoben werden müssen also auch für Mieten, Zinsen und Kapitaleinkünfte. Die Bürgerversicherung könnte dazu beitragen, die Lohnnebenkosten zu senken, die Beitragssätze herabzusetzen und die Einnahmen der Krankenversicherung besser gegen negative Konjunktureinflüsse - wie der hohen Arbeitslosigkeit - zu sichern.
Aus diesem Grund lehnen wir die Bürgerversicherung nicht ab, sondern fordern ganz im Gegenteil eine solche Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Was wir dagegen mit Sicherheit ablehnen, ist die Einführung von Kopfpauschalen, die die Bürger zur Kasse bittet, unabhängig davon, wie hoch ihr Einkommen ist.
Die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung ist heute ungewisser denn je. Niemand von uns kann sagen, wohin die Reise geht. Sicher ist, dass die bisher beschlossenen Reformen auch die aktuelle, noch nicht beschlossene nicht die Zukunftsprobleme lösen. Es mag sein, dass wir irgendwann einmal die Frage stellen müssen, ob diese oder jene Leistung wirklich noch durch die solidarische Krankenversicherung finanzierbar ist. Wobei ich ausdrücklich sagen möchte, dass ich da bestimmt nicht an die Lösungen eines Herrn Missfelder von der Jungen Union denke, der Menschen über 70 schon für abgängig hält.
Wir kommen aber irgendwann nicht um die Frage herum, wieweit die Krankenversicherung alle Leistungen finanzieren kann, die auch medizinisch möglich sind. Ich weigere mich aber, mich auf diese Diskussion einzulassen, bevor nicht die Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft sind, die durch vernünftige strukturelle Reformen der Krankenversorgung in Deutschland zu erzielen wären. Denn im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik sollte der Patient stehen und nicht die Leistungserbringer.