Rede · 19.11.2020 Der Fachkräftemangel ist unser drängendstes Problem
„Mein Respekt gilt allen Betrieben, die auch in diesen Zeiten ausbilden“
Jette Waldinger-Thiering zu TOP 12 - Mündlicher Bericht zur aktuellen Ausbildungssituation in Schleswig-Holstein (Drs. 19/2431)
Es ist wenig überraschend, dass die Corona-Pandemie auch spürbare Auswirkungen auf den Ausbildungsmarkt hat. Bei den neu eingetragenen Ausbildungsverhältnissen haben die Industrie- und Handelskammern zwischenzeitlich ein Minus von 22 Prozent gemeldet. Das ist ein enormer Rückgang. Und auch wenn sich die Lage aktuell ein wenig entspannt, stehen wir sowohl bei den Bewerberzahlen wie bei den Ausbildungsstellen weiterhin deutlich schlechter da als im Vorjahr. Diese Fakten sollten wir trotz des Optimismus, der hier versprüht wird, im Hinterkopf behalten.
Mir ist absolut bewusst, dass viele Branchen und Betriebe im Land noch immer im Ausnahmezustand sind. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer stehen unter enormem Druck. Die entsprechenden Hilfen und Gegenmaßnahmen haben wir hier also aus guten Gründen immer wieder diskutiert. Und doch ist die Frage der Ausbildungssituation für mich besonders sensibel. Denn hier stehen neben der Erwerbsbiografie und dem beruflichen Werdegang oft auch ganz konkrete Zukunftschancen auf dem Spiel. Und wenn die Zahl der jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz finden, im Vergleich zum Vorjahr um 388 gestiegen ist, sind das keine Peanuts, sondern viel zu viele Einzelschicksale.
Auch mir macht es Hoffnung, wenn ich in diesem Zusammenhang von Nachholeffekten oder Aufholprozessen lese. Doch es lässt sich kaum leugnen, dass die Corona-Pandemie auch die berufliche Bildung vor große Herausforderungen stellt. Wenn Veranstaltungen und Messen zur Berufsorientierung oder persönliche Bewerbungsgespräche nicht stattfinden können, ist das nun mal ein handfestes Problem. Gleiches gilt für ausgefallene Praktika oder Berufsberater, die nicht in die Schulen gehen können. Es bleibt zu hoffen, dass diese Dinge bald wieder normal laufen. Aber aus Sicht des SSW sind auch ohne zweiten Lockdown alternative Lösungen gefragt, wenn es darum geht, Absolventen und Unternehmen zusammenzuführen. Und hier sind nicht nur Kammern, Unternehmensverbände und Bildungsministerium, sondern vor allem auch das SHIBB in der Pflicht.
Die Pandemie mag es überlagern, aber eigentlich ist der Fachkräftemangel das drängendste Problem. Schon im März lag die Zahl der bundesweiten Ausbildungsplätze deutlich unter dem des Vorjahres. Als Gründe nennt die Bundesagentur die damals schon schwächelnde Konjunktur und die Tatsache, dass manche Unternehmen nach ergebnisloser Suche enttäuscht aufgeben. Das ist umso bedauerlicher, als dass es im ureigenen Interesse der Betriebe ist, möglichst viele Menschen auszubilden. Und viele und allen voran kleine Betriebe tun ja zum Glück genau das, obwohl die Bedingungen nicht gerade einfach sind. Davor habe ich größten Respekt. Andere müssen wir aber vielleicht noch ein weiteres Mal dazu ermutigen, auszubilden. Denn alle werden nach der Krise schnell wieder Fachkräfte brauchen.
Und da sollten wir uns solche Situation, wie wir sie ganz aktuell aus Lübeck hören, nicht erlauben.
Da schlafen Bootsbau-Auszubildende in Zelten und in ihren Autos, weil sie sich von ihrem schmalen Ausbildungslohn die Unterkunft vor Ort nicht leisten können. Da brauche ich jetzt hoffentlich gar nicht lange auf Hygienezustände, fehlende Wärme und Lernmöglichkeit hinweisen – das geht so einfach nicht. Da sehe ich das Ministerium in der Pflicht, auf dem schnellstmöglichen Wege zu reagieren und eine Lösung zu finden.
Doch nicht nur die Arbeitgeber müssen sich ihrer Verantwortung in dieser Zeit bewusst sein. Wir müssen auch junge Menschen, die am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehen, darin bestärken, neue Wege zu gehen. Offen zu sein für einen Umzug oder eine Ausbildung, die nicht ihre erste Wahl ist. Und die Arbeitsverwaltung darf nicht nachlassen und muss weiter alles tun, um Absolventinnen und Absolventen in Ausbildung zu vermitteln. Wenn nötig auch bis in die Wintermonate hinein. Wenn hier alle an einem Strang ziehen bin ich hoffnungsvoll, dass wir vielleicht wirklich mit einem blauen Auge davonkommen.