Rede · 22.09.2021 Der Landtag muss jetzt die Istanbul-Konvention umsetzen
„Wir sollten Sorge dafür tragen, dass keine Frauen mehr durchs Raster fallen, weil Kompetenzen unklar oder die Finanzierungszuständigkeit nicht geklärt ist!“
Jette Waldinger-Thiering zu TOP 5 - Frauenfacheinrichtungen bedarfsgerecht finanzieren (Drs. 19/3290)
Der rechtliche und auch der politische Rahmen in Sachen häuslicher Gewalt sind klar und eindeutig: Der Landtag wird die Istanbul-Konvention umsetzen müssen. Einfach, weil die Bundesrepublik Deutschland sich genau dazu vertraglich verpflichtet hat. Das ist eine gute Nachricht. Häusliche Gewalt tritt mit diesem Abkommen endlich aus dem Schatten privater Verhältnisse heraus und wird eine öffentliche Angelegenheit, die uns alle angeht. Das war überfällig und ich bin froh, dass wir hinter dieses Abkommen nicht mehr zurückkönnen.
Die Istanbul-Konvention macht aus einem unübersichtlichen privaten Konflikt, als der häusliche Gewalt immer noch verstanden wird, ein strukturelles Problem. Ich kann es nicht mehr lesen, wenn von einem Familiendrama berichtet wird oder häusliche Gewalt als quasi nachvollziehbare Eifersuchtstat verbrämt wird. Die Istanbul-Konvention macht klar, dass unsere Gesellschaft Frauen in ihrer häuslichen Umgebung zu wenig schützt. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Türkei aus dem Abkommen ausgestiegen ist. Dort gelten Frauenrechte immer weniger.
Aber auch in Deutschland werden Frauen in ihrem Zuhause geschlagen, sie werden vergewaltigt, ihre Haut wird verbrannt und die Kiefer werden gebrochen. Das passiert in der Pandemie und der damit verbundenen Enge noch häufiger als sonst. Aber ich möchte ganz klar sagen: jede verletzte Frau ist eine Frau zu viel.
Der Antrag der SPD-Fraktion ist darum richtig, weil er konkrete Finanzierungszusagen der Landesregierung einfordert. Nicht mehr schnacken, sondern machen.
Ich gehe aber davon aus, dass eine wirklich bedarfsgerechte Finanzierung weit über das hinaus geht, was der Antrag in Spiegelstrichen fordert. Vor allem der Kernpunkt der Istanbul-Konvention, die Koordinierung der Arbeit, bleibt mal wieder außen vor. Wir sollten Sorge dafür tragen, dass keine Frauen mehr durchs Raster fallen, weil Kompetenzen unklar oder die Finanzierungszuständigkeit nicht geklärt ist. Ich möchte das an einem Beispiel zeigen: viele Frauen haben nach einer Gewalterfahrung Depressionen, Zyklusstörungen oder andere körperliche Symptome. Offenbaren sie bei ihrem Hausarzt ihre Situation, ist dieser darauf angewiesen, dass er das Unterstützungsnetz kennt und den Ansprechpartnerinnen vertraut. Was ist aber, wenn keine entsprechende Informationen vorliegen, weil die Beraterinnen bereits in Arbeit ersticken? Was geschieht mit dieser Frau? Das ist kein konstruierter Fall. Das gleiche kann im Kindergarten geschehen, wenn eine Mutter mehrmals Verletzungen aufweist. Gerade diese Schnittstellen, wie auch Schule und Hort, profitieren von einem gut koordinierten Netzwerk. Flyer, Infotelefone, Präventionsarbeit in Schulen: alles das muss koordiniert und ständig aktualisiert werden. Bislang passiert diese Arbeit aber quasi nebenbei. Das ist ein großes Problem. Der Spiegelstrich zur Prävention in Frauenhäuser verkennt dien Umfang des Problems bei weitem.
Dänemark hat die Kommunen verpflichtet, jedem gewaltbetroffenen Erwachsenen eine kostenlose Beratung zu ermöglichen, die in einen Handlungsplan mündet. Das ist Hilfe aus einer Hand. Das ist mit Schleswig-Holstein nicht zu vergleichen. Gerade deshalb zeigt sich südlich der Grenze ein viel größerer Koordinierungsbedarf, der in den Kommunen aufläuft.
Der Deutsche Städtetag hat seine Mitgliedsstädte nach der Umsetzung der Istanbul-Konvention gefragt. Dabei ist herausgekommen, dass gerade der Aufbau von nachhaltigen Vernetzungsstrukturen sowie die kontinuierliche Arbeit mit dem Netzwerk kontinuierliche Herausforderungen mit sich bringen. Die Kommunen können aber, das ist ein Manko, keinen Förderantrag auf eine Koordinierungsstelle stellen; müssen die Finanzierung also selber stemmen. Wenig überraschend ist bei der Umfrage herausgekommen, dass nur wenige Kommunen in Deutschland bislang eine entsprechende Koordinierungsstelle geschaffen haben, wie beispielsweise Frankfurt oder Karlsruhe. Dass die finanzschwachen Kommunen in Schleswig-Holstein diesen Beispielen folgen, ist nicht absehbar.
Darum ist die Landesregierung gefragt, die Koordinierung mit einem Landesprogramm zu unterstützen. Überflüssig zu erwähnen, dass eine zeitbegrenzte Projektfinanzierung für diese wichtige Aufgabe nicht infrage kommt.