Rede · 26.09.2019 Lasst uns den Mut der Menschen bei der friedlichen Revolution feiern!
Unser Ziel sollte es sein, nicht die Asche zu bewahren, sondern das Feuer weiterzugeben.
Lars Harms zu TOP 23 - Für ein würdiges Gedenken (Drs. 19/1638)
Zum Thema Erinnerungskultur und würdigem Gedenken empfehle ich ein Gedicht aus dem Jahr 1974 von Günter Kunert: Vom Vergehen. Dort heißt es am Schluss:
In den Träumen der noch Niedergedrückten
und in den Gedanken der bereits Aufrührerischen,
wie in den Taten der sich schon Erhebenden
findet ihr, was von uns bleibt.
Der am Sonnabend verstorbene Günter Kunert wusste, was undemokratische Zustände in den Seelen der Menschen anrichten. Er musste ein paar Jahre nach diesem Gedicht die DDR verlassen, weil er die Ausbürgerung Wolf Biermanns kritisiert hatte. In Schleswig-Holstein fand er sein neues Zuhause.
Die Taten der Menschen, die sich in der DDR in vielen Demonstrationen versammelten und letztlich das Regime in die Knie zwangen, werden bleiben. Der Mut der Frauen und Männer hat Großes bewegt: ein System zum Einsturz gebracht und eine neue Demokratie errichtet. Dieser Mut war riesig, denn schließlich hatte erst Monate vorher ein anderes kommunistisches Regime eine Protestbewegung blutig zerschlagen. Das, was auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert war, war den Demonstranten in Leipzig, Berlin, Rostock und anderswo durchaus bewusst. Der Leidensdruck war aber einfach stärker. Und der Mut war größer!
Wie Kunert schrieb: Was bleibt, sind die Taten.
Eine abschließende Wertung der Wende kann aber auch fast eine Generation nach den Ereignissen nicht gelingen; ich würde sogar sagen, dass sich das sogar verbietet. Gerade in der lebendigen und aktuellen Neubetrachtung liegt doch der Ertrag einer Auseinandersetzung mit dem, was 1989 möglich wurde. Aber als Politikerinnen und Politiker sollten wir uns davor hüten, quasi einen Erinnerungsmaßstab vorgeben zu wollen. Junge Menschen stellen nämlich andere Fragen an die Geschehnisse als wir Zeitzeugen. Darum ist es so wichtig, keinen Schlussstrich zu ziehen, sondern die Ereignisse laufend in einen neuen, aktuellen Bezug zu stellen. Das kann zusammen mit Schülerinnen und Schülern besonders gut gelingen; durch einen Schülertag, durch lebensnahe Projekte oder andere Vorhaben.
Die Beschäftigung mit den Motiven der Bürgerbewegung, den Ängsten der Demonstranten und den Debatten in den Familien ist eben nicht Sache einiger Fachleute der Geschichtswissenschaft; sondern da sind wir alle gefragt. Was hast Du gemacht, als die Menschen im Osten auf die Straßen gingen? Das ist die Frage, die in unseren, den westdeutschen Familien gestellt wird. Dabei geht es nicht um die tatsächliche Verortung, sondern darum, was man sich damals gedacht hat. Viele Menschen hatten die Hoffnung auf ein gemeinsames Deutschland ja schon lange aufgegeben; in einigen politischen Bereichen galt der Verweis auf die Deutschen hinter Stacheldraht und Mauer sogar als verstaubt oder ewiggestrig. Die friedliche Revolution hat ja durchaus auch in der alten Bundesrepublik so manche Gewissheit in Frage gestellt. Viele Westdeutsche wollen sich ja nicht einmal heute ihr damaliges Desinteresse und Ignoranz gegenüber der DDR eingestehen; auch das ein historischer Tatbestand, der noch seiner Aufarbeitung harrt.
Das alles kann bei den Festlichkeiten zum Jahrestag der Deutschen Einheit durchaus eine Rolle spielen. Allerdings gibt es durchaus kritische Stimmen, die meinen, dass in Kiel die Festlichkeiten zu wenig Platz für die ernste Auseinandersetzung geben würden. Alles sei zu spaßorientiert und harmlos. Als ob es dunkler Anzüge, getragener Musik und ernster Mienen bedürfe, um angemessen der historischen Leistung der DDR-Bürgerinnen und Bürger zu gedenken. Das ist der vollkommen falsche Ansatz. Das ist doch, was uns die Ereignisse im November 1989 gezeigt haben: nicht das Denken, nicht die Reden sind entscheidend, sondern die Taten.
Ich halte es mit dem französischen Sozialisten Jean Jaures: „Die richtige Art, die Vergangenheit zu betrachten ist, das Werk der lebendigen Kräfte, die in der Vergangenheit gewirkt haben, in die Zukunft weiterzuführen.“ Für uns heißt das: Freiheit, Demokratie, Mitmenschlichkeit und Rechtsstaat. Das sollten wir in Lehrplänen, an den Erinnerungsorten und im zukünftigen Haus der Landesgeschichte beherzigen. Das wäre eine angemessene Würdigung einer Revolution, die ihresgleichen sucht.