Rede · 25.02.2022 Corona Maßnahmen: Wir fahren nach zwei Jahren Pandemie immer noch auf Sicht
„In einer der reichsten Wissenschaftsnationen der Welt haben wir es nicht geschafft, in den vergangenen zwei Jahren eine brauchbare Datengrundlage aufzubauen, anhand derer wir die Corona-Lage vor Ort wirklich sicher einschätzen können.“
Lars Harms zu TOP 25 - Zurück zu Eigenverantwortung und Selbstbestimmung – Corona Maßnahmen sofort beenden (Drs. 19/3641)
Nach gut zwei Jahren Corona-Pandemie können wir festhalten: den Menschen hängt Corona zum Halse raus. Und wer kann es ihnen verdenken.
Viele Menschen haben in den vergangenen zwei Jahren harte Einschnitte in ihrem Leben hinnehmen müssen, sei es beruflicher, gesundheitlicher, finanzieller oder sozialer Art. Homeschooling, Homeoffice, Kurzarbeit, oft sogar Arbeitslosigkeit, räumlich beengte Quarantäne-Situationen, wirtschaftliche Unsicherheit aber auch Einsamkeit und Isolation sind Dinge, die viele Menschen seit Beginn der Pandemie belastet haben.
An kaum jemandem ist die Pandemie einfach so vorbei gegangen. Wir merken das auch am gesellschaftlichen Klima: die Nerven liegen blank, bei immer mehr Menschen. Ohne Frage ist es daher dringend geboten, die Corona-Maßnahmen auch wirklich zu lockern, wenn Lockerungen möglich sind. Das sind sie jetzt.
Zwar liegen nach wie vor Corona-Patienten in Schleswig-Holsteins Krankenhäusern, von einer Überlastung des Systems sind wir aber weit entfernt.
Zeit also, den Menschen wieder mehr Eigenverantwortung zu geben. Schauen wir nach Dänemark, wo die Impfquoten ähnlich hoch sind wie in Schleswig-Holstein, dann sehen wir: die Fallzahlen steigen, die Zahl der Menschen mit Corona in den Kliniken steigt auch, aber nicht die Zahl derjenigen, die wegen Corona behandelt werden müssen oder gar an Corona sterben. Hier sehen wir aber auch eine deutliche Stärke Dänemarks im Vergleich zu uns:
Dänemark hat eine verlässliche Datengrundlage, die geeignet ist, das Infektionsgeschehen verlässlich zu beurteilen. Das haben wir in Deutschland und in Schleswig-Holstein auch nach zwei Jahren Pandemie bis heute nicht. Das ist ein Versäumnis, das nur schwer zu entschuldigen ist. Als seinerzeit die Omikron-Variante entdeckt wurde, kam die erste Meldung hierüber aus Südafrika. Die nächsten Meldungen kamen dann aus Dänemark.
Das lag nicht daran, dass es die Virusvariante nur dort gab, sondern daran, dass man die PCR-Proben dort verlässlich sequenziert hat. Da kann man sich fragen, warum können die das in Südafrika und wir in Deutschland können das nicht?
Da haben wir viel versäumt während der Pandemie. In einer der reichsten Wissenschaftsnationen der Welt haben wir es nicht geschafft, in den vergangenen zwei Jahren eine brauchbare Datengrundlage aufzubauen, anhand derer wir die Corona-Lage vor Ort wirklich sicher einschätzen können. Stattdessen hieß es immer „Wir müssen auf Sicht fahren“. Da hätte ich mir doch einen verlässlicheres Radar gewünscht. Hier müssen wir in Deutschland aufholen, wir haben viele Jahre Digitalisierung verschlafen.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass wir uns in der aktuellen Lage gewünscht hätten, dass die Lockerungen zügiger von statten gehen und nachvollziehbarer gestaltet werden. Wann und wo nun zunächst 2G, dann 3G und dann nichts mehr gilt, ist für die Menschen im Land nur schwer nachvollziehbar. Warum in dieser Woche ein negativer Test nicht genügen soll, um Essen zu gehen, übernächste Woche dann aber schon, ist den Menschen nur noch schwer zu vermitteln.
Aus unserer Sicht hätte der erste Schritt der Umstieg auf 3G sein sollen, um dann in einem weiteren Schritt auch diese Einschränkung fallen zu lassen. Ohne Frage, ist jeder Mensch, der an Corona stirbt, einer zu viel. Und darum ist es sinnvoll, einen Basisschutz aufrecht zu erhalten. Aber, als Politik ist es auch unsere Aufgabe, wieder viel stärker in den Blick zu nehmen, dass wir seit zwei Jahren etwas tun, was es in diesem Umfang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hat:
wir beschränken die Menschen in ihren Grundrechten. Diese Grundrechte sind ein hohes Gut, das höchste, das wir haben in unserem Rechtsstaat. Einschränkungen dieser Rechte können und dürfen nur mit sehr viel Fingerspitzengefühl erfolgen und niemals ohne echte Not.
Ein Politiker in Dänemark sagte kürzlich: wir nehmen die Beschränkungen nicht weg, weil wir können, wir tun es, weil wir es müssen. Unser Rechtsstaat erlaubt es nicht länger, die Grundrechte der Menschen einzuschränken! Das muss auch für uns die Maxime im politischen Handeln sein.
Das heißt aber nicht, dass wir die Menschen sich selbst überlassen wollen. Ein schlichtes „Alle Maßnahmen weg, sofort!“ greift zu kurz und ist populistisch.
Es ist nicht Aufgabe der Politik, jeden einzelnen Menschen vor einer Corona-Infektion zu schützen. Es ist aber sehr wohl unsere Aufgabe, die vulnerablen Gruppen angemessen zu schützen. Das ist sicherlich das Schwierigste an der aktuellen Lage: die unterschiedlichen Bedürfnisse und Verantwortlichkeiten nicht aus dem Blick zu verlieren.
Also: die Maßnahmen in der Breite aufheben, aber dort, wo es zum Schutz wirklich gefährdeter Menschen notwendig ist, sinnvolle und angemessene Schutzmaßnahmen beibehalten. Test- und Maskenpflicht für Besucher in Kliniken und Pflegeeinrichtungen sind ein sinnvolles Mittel, um die Schwächsten zu schützen.
Auch eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ist für uns angemessen, da sie ein Stück weit vor der Übertragung des Virus schützt und somit auch davor, dass Corona über die Mitarbeitenden bei den gefährdeten Patienten in Heimen und Kliniken eingetragen wird. Dennoch muss gesagt werden: der Bundesgesetzgeber hat es sich an dieser Stelle zu leicht gemacht. Zwar ist die einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen, aber die Umsetzung überlässt man den Gesundheitsämtern vor Ort. Zum einen fehlen hier die personellen Kapazitäten, um auch diese Aufgabe noch wahrzunehmen, zum anderen stellt sich die Frage, wie das in der Praxis gehen soll.
Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, Antworten darauf zu finden, wie die Pflicht umgesetzt werden soll in einer von Personalmangel schwer gebeutelten Branche!
Auch wenn wir nun einem entspannten Frühjahr und Sommer entgegensehen, so kommt der nächste Herbst bekanntlich schneller, als wir denken. Darum müssen wir über den Sommer unsere Hausaufgaben machen. Das Schließen der Impfzentren von Seiten der Landesregierung im vergangenen Herbst war keine Glanzleistung, hier fordern wir für den kommenden Sommer und Herbst mehr Weitsicht.
Wir müssen eine eventuelle vierte Impfung schon jetzt einplanen, damit wir dann zum Herbst handlungsfähig sind. Das gleiche gilt für die Testmöglichkeiten. Auch nach Aufhebung der Maßnahmen müssen die Menschen die Möglichkeit haben, sich testen zu lassen. Und zwar kostenfrei. Die Testinfrastruktur wieder komplett einzustampfen, wie es im letzten Herbst geschehen ist, ist kurzsichtig. Aus solchen Fehlern der letzten Jahre müssen wir lernen, um es für die Zukunft besser zu machen.
Was eine allgemeine Impfpflicht angeht, sage ich ganz klar: eine Impfpflicht ist ein Grundrechtseingriff und kann als solcher nur das letzte Mittel sein. Mit Blick auf die Impfquote in Schleswig-Holstein, die bei etwa 80 Prozent liegt und damit gleichauf mit unseren dänischen Nachbarn, wage ich zu bezweifeln, dass ein solcher Eingriff derzeit eine angemessene Maßnahme ist.
Und auch hier möchte ich noch einmal feststellen, was uns von Dänemark unterscheidet ist, dass die Dänen wissen, wie viele Menschen sie geimpft haben. Auf die Person genau. Wir schätzen, dass wir 80 Prozent geimpft haben. Vielleicht sind es aber auch fünf Prozent mehr oder weniger? Wie wollen wir denn eine Impfpflicht umsetzen, wenn wir nicht wissen, wen wir geimpft haben? Ohne Impfregister kann es meines Erachtens keine Impfpflicht geben.
Die Bundesregierung lehnt das mit Verweis auf den Datenschutz ab. Ich frage: haben nicht Dänemark und Österreich die gleiche Datenschutzgrundverordnung wie wir? Warum können die ein Impfregister machen und wir nicht? So nachvollziehbar die deutsche Sorge vor staatlicher Datensammelei ist, so wenig angemessen ist es, weitreichende politische Entscheidungen ohne echte Datengrundlage zu treffen. Unter den gegebenen Umständen sehe ich eine allgemeine Impfpflicht daher nicht.
Mit Blick auf die Impfquote sehe ich aber auch, dass diese zum Beispiel in Bremen sogar noch deutlich höher ist als bei uns im Land. Durch gute Aufklärung und sachliche Informationen können wir die Menschen dazu bewegen, sich impfen zu lassen. Dafür müssen wir noch viel mehr zu den Menschen hingehen und sie mit passgenauen Informationen „abholen“. Dann können höhere Impfquoten auch hier bei uns gelingen, ganz ohne eine gesetzliche Pflicht.
Abschließend möchte ich noch einmal den Blick in den globalen Süden richten und anmahnen: die Corona-Pandemie endet weltweit nur dann, wenn allen Menschen auf der Welt der Zugang zu Impfungen ermöglicht wird. Auf dem afrikanischen Kontinent liegt die Impfquote aktuell bei gut 11 Prozent. Hier haben wir in den wohlhabenden Ländern eine besondere Verantwortung. Unsere Aufgabe endet nicht da, wo unsere Bürger geimpft sind.
Dieser Verantwortung müssen wir uns in Deutschland und Europa stellen, indem wir den ärmeren Ländern Impfstoff in ausreichender Menge zur Verfügung stellen. Das Virus macht nicht an den Grenzen halt, darum darf der Impfstoff es auch nicht tun!