Rede · 12.05.2023 Wir nähern uns dem Kollaps des Kitasystems
„Das, was uns die Regierenden an Lösungen für den Fachkräftemangel präsentieren, ist leider deutlich zu wenig… Statt Personal hin- und herzuschieben oder flächendeckend auf Menschen mit zweifelhafter Qualifikation zu setzen, brauchen wir eine echte Fachkräfteoffensive.“
Christian Dirschauer zu TOP 7+41 - Gesetz zur Änderung des Kindertagesförderungsgesetzes und Fachkräftemangel in Kitas
Drs. 20/832, 20/965 und 20/967
Ich will hier gewiss keine Panik verbreiten. Aber das, was sich derzeit in vielen Kitas im Land abspielt ist wirklich alarmierend. Egal ob die hier Beschäftigten, die Eltern oder die Träger: Alle stehen unter immer stärkerem Druck. Nahezu alle weisen auf große Herausforderungen und drängende Probleme hin. Auch hier im Haus haben wir die wesentlichen Baustellen mehrfach diskutiert. Natürlich haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine die Situation in vielen Einrichtungen verschärft. Doch losgelöst hiervon und trotz stetig steigender Ausgaben in diesem Bereich lässt es sich im Grunde auf eins runterbrechen: Wir haben nicht nur weiterhin zu wenig Betreuungsplätze, sondern wir haben vor allem einen massiven Fachkräftemangel. Und leider spitzt sich die Lage nicht nur immer weiter zu, sondern wir sind aktuell in der Situation, dass das, was uns die Regierenden hierfür an Lösungen präsentieren, deutlich zu wenig ist.
Wer den SSW kennt weiß, dass uns das Thema Kita viel zu wichtig ist, um plumpe Oppositionskritik zu üben. Unser Anspruch war immer, einen konstruktiven Beitrag zu leisten, um die frühkindliche Bildung weiterzuentwickeln. Und gerade beim Thema Fachkräftemangel ist es absolut nahvollziehbar, dass sich CDU und Grüne mit einer Lösung schwertun. Wir alle wissen, dass man sich kein Personal schnitzen kann. Aus diesem Grund haben wir auch Verständnis dafür, dass zum Beispiel eine Maßnahme wie die helfenden Hände vielleicht nicht komplett durchdacht war. Aber auch wenn die Not noch so groß ist, muss ich hier eins betonen: Aus unserer Sicht ist trotzdem längst nicht jedes Mittel legitim, das mehr Personal in die Kitas bringt. Und mit Blick auf die aktuelle Änderung des Kitagesetztes muss ich daher deutlich sagen, dass wir die Warnungen nahezu aller Anzuhörender sehr ernst nehmen.
Dass sozialpädagogische Assistenten mit langer Berufserfahrung Gruppenleitungen übernehmen sollen, mag nicht zuletzt unter dem Aspekt der Personalentwicklung sinnvoll sein. Aber die vorhandenen Kräfte werden lediglich innerhalb der Einrichtung verschoben. Da muss dann doch die Frage erlaubt sein, wer hier nachrücken soll oder welche Ansätze es eigentlich gibt, um neues Personal zu gewinnen. Man kann festhalten, dass hierdurch niemand in der Kita entlastet wird. Angesichts des Ausmaßes des Problems, versprechen wir uns von diesem Ansatz wenig. Und wir haben auch Zweifel daran, dass die Regelungen zum Quereinstieg der nötige Befreiungsschlag sind. Zwar sind die Vorgaben hierzu eher vage formuliert, aber wir können nachvollziehen, dass man in dieser absoluten Notsituation nach diesem Strohhalm greift. Damit diese Maßnahme aber nicht dauerhaft und flächendeckend zur Absenkung der Kita-Qualität führt, wie viele Anzuhörende befürchten, ist zumindest eine gründliche Evaluation und zeitliche Befristung nötig.
Wir haben schon in der letzten Debatte zur frühkindlichen Bildung auf die alarmierenden Aussagen vieler Bildungsforscher hingewiesen. Namhafte Expertinnen und Experten warnen nicht erst seit gestern vor dem Kollaps des Kitasystems. Angesichts des Fachkräftemangels befürchten viele von ihnen, dass die Einrichtungen schon sehr bald zu reinen Aufbewahrungsorten für Kinder verkommen. Dabei ist der Anspruch doch glasklar formuliert: Kindertageseinrichtungen haben einen eigenständigen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag. Und damit sie diesem auch nachkommen können, brauchen wir zusätzliche Fachkräfte, die entsprechend ausgebildet werden müssen. Deshalb muss aus Sicht des SSW folgendes gelten: Statt Personal hin- und herzuschieben oder flächendeckend auf Menschen mit zweifelhafter Qualifikation zu setzen, brauchen wir eine echte Fachkräfteoffensive.
Das heißt, dass wir die Ausbildungskapazitäten steigern und auch die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen spürbar verbessern müssen. Wie wir wissen, ist die Verweildauer der Beschäftigten im Kitabereich viel zu gering. Aus Sicht des SSW haben aber alle, die im Kitasystem arbeiten, einen deutlich attraktiveren Rahmen verdient. Denn frühkindliche Bildung ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Und das muss auch so bleiben. Unsere Kita-Kinder sollen eben nicht verwahrt, sondern von Beginn an in ihren Entwicklungsphasen, Lebenslagen und -welten begleitet, aufgefangen und gefördert werden. Für diese Arbeit sind zum Beispiel Kenntnisse über Bindungstheorien oder ein ausgeprägtes Inklusionsverständnis unerlässlich. Außerdem braucht es ausreichend Raum für Fortbildungs- und Verfügungszeiten und für Fachberatungen. Das muss unser flächendeckender Standard sein. Daher brauchen wir echte Expertinnen und Experten, die in multiprofessionellen Teams zusammenarbeiten. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie endlich entsprechend bezahlt werden.
Ich denke, wenn wir uns den Kitabereich im Ganzen anschauen, müssen wir uns eins bewusst machen: Trotz wachsender Ausgaben und einer im Kern absolut richtigen Reform liegen Anspruch und Wirklichkeit oft noch weit auseinander. Das zeigt sich zum Beispiel auch bei Fragen der Inklusion. Familien mit einem Kind mit Behinderung sind oft noch buchstäblich kilometerweit von einer echten Wahlfreiheit entfernt. Auch hier fehlt es leider nach wie vor an den nötigen strukturellen Rahmenbedingungen und vor allem am Personal. Und wenn uns große Träger sagen, dass absehbar ein Drittel aller Mitarbeitenden in Rente geht, wird auch hier das Ausmaß der Herausforderung deutlich.
Doch auch wenn die Probleme groß sind, darf die Antwort nicht die Absenkung der Kita-Standards und der Qualität in den Einrichtungen sein. Im Gegenteil: Wir müssen massiv in die Entwicklung von Fachkräften und in ihren Verbleib in den Kitas investieren. Und wenn es nach dem SSW geht, dann muss auch der Zugang zur Kita für die Familien in Schleswig-Holstein so schnell wie möglich komplett kostenfrei gestellt werden. Denn selbst ein noch so kleiner Elternbeitrag kann für Familien eine Hürde sein, die im Zweifel zur Entscheidung gegen Krippe oder Kita führt. Daran ändert auch die Verlängerung der Sozialstaffel wenig, denn die hilft den Betroffenen oft nur geringfügig und die finanzielle Belastung bleibt gerade für kinderreiche Familien noch zu hoch.