Rede · 19.11.2009 Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag Schleswig-Holstein
Es ist nicht das erste Mal, dass der Landtag sich mit den Problemen des Landeswahlgesetzes auseinandersetzt. Aber es ist das erste Mal, dass wir die Konsequenzen so direkt vor Augen haben. Wir sehen jetzt, was passiert, wenn eine Partei viele Wahlkreise direkt gewinnt und es so nicht nur zu einer deutlichen Vergrößerung des Landtages, sondern auch zu einer Verzerrung des Wahlergebnisses kommt. Nach der Landtagswahl am 27. September haben die CDU und die FDP gemeinsam eine Mehrheit von drei Mandaten im Landtag, obwohl sie nur 46,4 % der Zweitstimmen beziehungsweise 49 % der hier im Parlament vertretenen Zweitstimmen auf sich vereinigen konnten. Deutlicher kann das Missverhältnis kaum noch werden.
Wir hätten auf diese Veranschaulichung gut verzichten können, denn die Konsequenz ist, dass das Vertrauen vieler Wählerinnen und Wähler in das Wahlrecht und in die demokratische Legitimation von Landtag und Landesregierung zerrüttet ist. Viele Bürger fragen sich nun verständlicherweise, ob es rechtens sein kann, dass man mit einer Minderheit der abgegebenen Stimmen eine Regierungsmehrheit bekommen kann. Im Moment hängt es von der eigenen parteipolitischen Präferenz der Menschen ab, ob sie dem Wahlrecht vertrauen oder nicht, und das kann nicht sein.
Der SSW hat bereits 2004 und 2008 gemeinsam mit den Grünen und der FDP darauf aufmerksam gemacht, dass die Zahl der Wahlkreise und die daraus folgende höhere Wahrschein-lichkeit von Überhangmandaten Probleme bereiten werden. Gewinnt eine Partei viele Wahl-kreise direkt, dann wird immer eine Reihe von Ausgleichsmechanismen gestartet werden, damit die Mandatsverteilung im Landtag die Wählerstimmen widerspiegeln – also die Zweitstimmen. Diese Verteilungsregeln können immer nur eine Annäherung darstellen, da nur ganze Landtagsmandate vergeben werden, während die Wahlergebnisse in der Regel mit Kommastellen ausgewiesen werden. Durch die Wahl der Mechanismen kann das Parlament aber dazu beitragen, dass das Zweitstimmenergebnis besser oder schlechter abgebildet wird und damit die Unschärfe des Proportionalverfahrens reduziert wird. Sowohl die CDU als auch die SPD sind über diese Kritik hinweg gestiegen, weil dieses Wahlsystem abwechselnd einer der großen Parteien Vorteile bietet. Sie haben die Warnungen ignoriert und insbesondere die schiefe Mandatsverteilung in Kauf genommen, die jetzt eingetreten ist.
Dabei ist das Problembewusstsein – menschlich verständlich – jeweils auf der Seite weniger ausgeprägt, die gerade davon profitiert. 2009 ist es die CDU-FDP-Koalition, die wenig Engagement entwickelt. Im Koalitionsvertrag ist zwar das Thema behandelt, aber es gibt nichts Konkretes. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass CDU und FDP zeitnah das Landeswahlrecht mit der Zielsetzung überarbeiten wollen, eine Überschreitung der in der Landesverfassung vorge¬sehenen Landtagsmandate zu vermeiden. Diese Formulierung ist nicht nur vage, sie reduziert das Problem auch auf die Größe des Landtags und bezieht keine Stellung zur mehrheitsverzerrenden Wirkung. Damit gibt es keine Garantie dafür, dass die Probleme mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten dauerhaft politisch gelöst werden. Insofern begrüßen wir den Gesetzentwurf der Grünen, der mit der Reduzierung der Wahlkreise von 40 auf 30 und der Ablösung des D’Hondtschen Höchstzählverfahrens nicht nur das Anwachsen des Landtags verhindern würde, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer Verzerrung reduziert.
Entscheidend ist aber, dass mit der Streichung des § 3 Absatz 5 des Landeswahlgesetzes der Kern des Problems angegangen wird. Da in dieser Vorschrift eine Begrenzung der Ausgleichs-mandate vorgesehen ist, ist heute ein vollständiger Ausgleich der Überhang¬mandate nicht zwingend vorgeschrieben. Werden diese Direktmandate nicht vollständig ausgeglichen, dann wird der Wählerwille beziehungsweise das Zweitstimmenergebnis durch diese Einschränkung im Rahmen der Sitzverteilung im Landtag nicht richtig wiedergegeben. Die Folge ist, dass Parteien mit einer Minderheit der Zweitstimmen eine Mehrheit der Mandate im Parlament erhalten können - oder anders formuliert, dass die Wählerstimmen nicht gleich viel wert sind. Nach dem jetzigen Wahlergebnis waren deshalb für ein Mandat der CDU nur 14.811,53 Stimmen erforderlich, während für ein SSW-Mandat 17.359,5 Stimmen nötig waren.
Von einem gleichen Erfolgswert der Stimmen und damit von einer Gleichheit der Wahl kann daher nicht die Rede sein – zumindest nicht solange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, diesen Effekt durch andere Verteilungsverfahren zu minimieren. Alle Mandate sind gleich viel Wert. Deshalb dürfen Direktmandate nicht bevorzugt behandelt werden. Das hat nichts damit zu tun, dass wir die demokratische Legitimation der Direktmandate in Zweifel ziehen, wie es der CDU-Fraktionsvorsitzende unterstellt hat. Aber die Zahl der Überhangmandate darf nicht dazu führen, dass die Wahl der Bevölkerung durch den Erfolgswert verzerrt wird.
Diese Verzerrung ist aber nach der Landtagswahl 2009 so gravierend, dass Mitte Oktober verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Landeswahlgesetz geäußert wurden. Während die Landesverfassung vorschreibt, dass Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden, lässt § 3 Absatz 5 Satz 3 des Wahlgesetzes eben zu, dass dieser Ausgleich auch nur im begrenzten Umfang vorgenommen wird. Eben dies hat die Landeswahlleiterin ja getan. Deshalb möchte ich auch noch einmal unterstreichen: das Problem ist nicht zuerst, wie die Landeswahlleiterin und der Landeswahlausschuss entschieden haben, das war und ist durch das Wahlgesetz gedeckt, sondern das Problem ist die gesetzliche Norm selbst, die angewendet wurde.
Durch die Frage der Verfassungsmäßigkeit hat diese Diskussion eine neue Qualität bekommen. Es geht nicht mehr nur darum, ob die eine oder andere Seite mehr profitiert und ob das Gesetz besser gestaltet werden kann, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Es geht jetzt darum, ob das Wahlgesetz überhaupt so aussehen darf. Wir können nicht mit verfassungsrechtlichen Zweifeln am demokratischen Wahlsystem in Schleswig-Holstein leben. Wenn diese Frage nicht schnell geklärt wird, kann das Vertrauen in die demokratische Legitimation von Parlament und Regierung dauerhaft Schaden nehmen. Es ist die Pflicht aller Parteien, eine solche fatale Entwicklung im Keim zu ersticken. Deshalb haben der SSW und die Grünen das Landesverfassungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens um Klärung gebeten. Weder das Parlament noch die Regierung können fünf Jahre lang mit dem Vorwurf leben, dass Schleswig-Holstein mit einer verfassungswidrigen Mehrheit regiert wird. Leider gibt es hierfür keinen anderen Weg als den juristischen.
In der Frage des Verhältnisausgleichs zur Landtagswahl 2009 geht es nicht darum, ob ein politischer Block oder der andere die Macht bekommt. Es gibt politisch keine Mehrheit für eine SPD-geführte Landesregierung, egal wie die Mandatsverteilung vorgenommen wird. Deshalb muss diese Situation zuerst genutzt werden, um ein für alle Mal die Ungerechtigkeiten im Wahlrecht auszuräumen, die bei kommenden Wahlen zu weit größeren Spannungen und Ungerechtigkeiten führen können. Hinzu kommt, dass die politische Landschaft in Deutschland sich im Wandel befindet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass im Landtag auch in Zukunft mehrere kleine und mittelgroße Parteien vertreten sind. Dies verschärft zusätzlich das grundsätzliche Problem, das durch die Begrenzung der Ausgleichsmandate entsteht. Es muss also gehandelt werden. Wir sind sicher, dass das Landesverfassungsgericht dem Landtag dabei auf die Sprünge helfen wird. Angesichts des Vertrauensverlustes, den diese Wahl mit sich geführt hat, wäre es aber angebracht, dass das gesamte Parlament auch ohne Nachhilfe vom Gericht deutlich erklärt: Die möglichst genaue Umsetzung des Wählerwillens ist wichtiger als der kurzfristige parteipolitische Gewinn durch ein unscharfes Wahlgesetz.