Rede · 20.01.2016 Die Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt ist die vorrangige Aufgabe für die deutsche Gesellschaft
Lars Harms zu TOP 9, 17, 20 - Aktuelle Fragen der Asyl- und Ausländerpolitik
Ich möchte dazu aufrufen, dass wir gemeinsam unsere Beobachtungsinstrumente scharf stellen. Wir schauen derzeit immer nur auf Gruppen, auf einzelne Länder; und dabei geraten uns die Einzelpersonen aus dem Blick. Die vereinfachende Betrachtung führt durchweg zu negativen Assoziationen, die Menschen pauschal verurteilen und verunglimpfen. Das galt für die so genannten Pleitegriechen genauso wie es jetzt für die so genannten Nordafrikaner gilt.
Wir bewegen uns dabei auf einer schiefen Ebene, die unsere demokratischen Werte ins Rutschen bringt. In der Demokratie geht es um den einzelnen Menschen, um seine individuellen Rechte und seine Wünsche. Nur Unrechtsregime degradieren Menschen zum Teil eines Volkskörpers und versuchen ihre Individualität einzuebnen. Die FDP schreibt in ihrem Antrag vom Generalverdacht und bringt damit diese Beobachtungsfehler auf den Punkt. Kurt Tucholsky hat bereits 1924 den Unsinn von nationalen Vorurteilen auf den Punkt gebracht, als er folgendes Gedicht schrieb: „Die Dänen sind geiziger als die Italiener. Alle Letten stehlen. Alle Bulgaren riechen schlecht. Rumänen sind tapferer als Franzosen. Russen unterschlagen Geld. - Das ist alles nicht wahr, wird aber im nächsten Kriege gedruckt zu lesen sein.“ So weit Tucholsky.
Vorurteile und Pauschalisierungen bringen nichts – nur Unfrieden. Darum sollen wir uns auf unsere Tugenden besinnen: Gerechte, faire Verfahren unter Beachtung des Einzelfalles.
Wer mit Flüchtlingen spricht bzw. ihnen zuhört, wird schnell merken, dass es Riesenunterschiede zwischen ihnen gibt. Pauschalisierungen helfen niemandem bzw. bedienen immer nur Vorurteile der falschen Seite. Das sage ich auch ausdrücklich denjenigen, die uns glauben machen wollen, dass alle Flüchtlinge nette Menschen sind. Nein, sind sie nicht. Flüchtlinge sind Menschen. Menschen haben nun mal Stärken und Schwächen. Flüchtlinge sind nicht per se kriminell. Der Leiter der Braunschweiger Kripo, Ulf Küch, hat genau in die Statistik gesehen und sagt gegenüber dem NDR: "Der Anteil von Kriminellen, die mit den Flüchtlingen nach Deutschland eingereist sind, ist prozentual nicht höher als der Anteil von Kriminellen in der deutschen Bevölkerung." Flüchtlinge sind nicht krimineller als andere; umgekehrt aber auch keine Engel. Dieser Befund liegt auf der Hand. Setzen wir darum die jeweiligen Vereinfacher-Brillen ab und stellen unsere Beobachtung scharf: und zwar auf den Einzelfall.
Das gleiche möchte ich zum Antragsteil bezüglich der Sicherheit von Frauen auf der Kieler Woche anfügen. Es gab bereits in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe. Die neue Qualität der Übergriffe aus einer Gruppe heraus erfordert andere Eingreifkonzepte und deutlich sichtbare Präsenz der Polizei. Die Einsatzkräfte sind allerdings jetzt gewarnt. Sie werden sicherlich mit besonderer Aufmerksamkeit vorgehen und die Besonderheiten dieser Großveranstaltung berücksichtigen.
Genau das ist das, was Deutschland ausmacht und was Deutschland den Flüchtlingen neben der Gastfreundschaft bieten kann: die individuelle Beachtung und Bewertung. Vorfestlegungen wird es darum mit dem SSW nicht geben.
Ich bin davon überzeugt, dass wir es nicht mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit zu tun haben, wie in der Antragsbegründung zu lesen, sondern mit einem Zuwachs an geäußerter Fremdenfeindlichkeit; also das, was man sich traut zu sagen. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass in Deutschland Vorurteile und rechtsnationalistische Gesinnungen ausgerottet sind. Sie sind weit verbreitet. Laut der Studie „Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014“ der Uni Leipzig verfügt bundesweit etwa jeder 20. Befragte über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Manche halten damit hinter den Berg, meinen aber zunehmend, dass die Zeit wieder reif für ihre Meinung sei. Diese Entwicklung kann man ausgezeichnet in den sozialen Netzwerken beobachten. Dort sind solche Gedankengebäude immer zuallererst sichtbar. Sie sind aber trotzdem nicht die Mehrheitsmeinung, sondern nur die Meinungen einer dummen Minderheit!
Die Liste von Brandanschlägen und ausländerfeindlicher Hetzpropaganda ist lang und reicht weit ins letzte Jahrhundert zurück. Wir gedenken dieser Tage des Brandes in der Lübecker Hafenstraße 1996; damals zur Hochzeit von Neonazi-Anschlägen und Aufmärschen. Die Neonazis lassen sich inzwischen die Haare wachsen, aber ihre Gesinnung lebt weiter; oftmals in der Mitte der Gesellschaft. Bei so mancher Veranstaltung höre ich ausländerfeindliche Hetze. Ich tue das nicht ab, sondern versuche, das Gespräch aufzunehmen. Wir Demokraten sind jetzt in diesen unübersichtlichen Zeiten besonders gefragt, uns auch unangenehmen Fragen zu stellen.
Schnelle Lösungen wird es nämlich nicht geben. Die Schließung der Grenze kommt aus den schlimmen Erfahrungen, die wir im geteilten Deutschland machen mussten, nicht infrage. Niemand sollte sterben müssen, weil er eine Grenze passieren möchte. Mobilität ist ein Menschenrecht. Darum begrüße ich ausdrücklich die Patrouillen der Bundeswehr im Mittelmeer, die die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten.
Auf der anderen Seite muss niemand eingesperrt werden, weil er in Deutschland bleiben möchte. Es war richtig, die Abschiebeeinrichtung in Rendsburg zu schließen. Monatelang waren dort Flüchtlinge ohne Bleiberecht eingesperrt. Allerdings muss der Staat auch die Möglichkeit haben, Flüchtlinge abzuschieben, um die Souveränität des Rechtsstaates zu wahren. Das geschieht ja auch. Das muss aber so gestaltet werden, dass die Menschenwürde nicht verletzt wird. Das Aufenthaltsgesetz macht seit August letzten Jahres den so genannten Ausreisegewahrsam möglich. Der betrifft Menschen, die ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sind und/oder bei denen Fluchtgefahr besteht. Sie werden von ihren Wohnort abgeholt und sollten dann am Flughafen in Räume gebracht werden, die sie nur noch in Richtung Flieger verlassen können. Diese Unterbringung ist nur für einige Stunden oder Tage gedacht und keineswegs mit einer Abschiebehaft gleichzusetzen. Am Hamburger Flughafen wäre ein solches Gewahrsam möglich. Für uns wäre dabei klar, dass wir für ein solches Gewahrsam, das ja rechtlich verpflichtend ist, das möglichst mildeste Mittel genutzt wird, wie ich es auch gerade eben beschrieben habe.
Eine Abschiebung in Kriegsgebiete kommt allerdings unter keinen Umständen in Frage. Wir werden niemanden in den sicheren Tod schicken. Das gleiche gilt beispielsweise auch für das ehemalige afghanische Personal der Bundeswehr in Afghanistan. Diese Menschen und ihre Familien müssen um ihr Leben fürchten. Eine Abschiebung ist darum ausgeschlossen. Dennoch muss nach wie vor jeder Einzelfall geprüft werden. Wenn wir uns dahingehend einig sind, ist damit auch das Ansinnen der Separierung vom Tisch. Das Wort Ghetto im Antrag der CDU-Antrag steht ja nicht ohne Grund in Anführungszeichen. Hilfsweise sollten wir von sozialen Slums mit ethnisch homogener Bevölkerung sprechen. Und die sind ja durchaus europäische Realität, zum Beispiel in einigen Pariser Vorstädten. In Deutschland ist dagegen die gemischte Bewohnerschaft die Regel, schrieb „Die Zeit“ im April 2013. In der vergleichenden Forschung wird von einem ethnisch geprägten Viertel erst dann gesprochen, wenn dort der Anteil einer Ethnie mindestens 40 Prozent beträgt. Das ist in keiner deutschen Stadt der Fall. Normalität sind in Deutschland ethnisch gemischte Viertel mit einer deutschen Mehrheit. Die Politik in Berlin fürchtet allerdings, dass sich das gründlich ändern könne. Darum geistert der Vorschlag einer Wohnortpflicht für Flüchtlinge in den Interviews herum. Die Flüchtlinge sollen statistisch genau übers Land verteilt werden und nicht die Großstädte verstopfen. Dies kann Sinn machen, wenn größere Städte bei der Integration von ausländischen Mitbürgern überfordert sind. Flüchtlinge wollen aber dort wohnen, wo sie Arbeit finden. Deshalb muss es zumindest die Ausnahme oder auch die Regel geben, dass man natürlich den Wohnort wechseln kann, wenn man andernorts Arbeit gefunden hat.
Zu bedenken ist in dieser Diskussion allerdings auch, dass die neuen Menschen auf bestehende Netzwerke angewiesen sind, damit sie überhaupt eine Chance auf Integration haben.. Dann stehen sie auch möglichst schnell auf eigenen Beinen. Darum gibt es auch bei uns kleine ethnische Kolonien; und zwar in allen großen deutschen Städten. Die Einwanderer suchen ihre Landsleute, die schon in Deutschland wohnen, gezielt auf, weil sie der Brückenkopf vertrauter Heimat in der Fremde sind. Zuwanderer sind aufgrund der geringen Sprachkenntnisse besonders auf informelle Hilfsnetze angewiesen, und die finden sie zumindest in der ersten Zeit in diesen Vierteln. Genau aus diesem Grund gibt es eine große friesische Gemeinde in New York. Viele Friesen sind in den 1950er Jahren in die USA ausgewandert und haben ihre ersten Erfahrungen nach der Auswanderung in Brooklyn gemacht. Das war ihr Sprungbrett in die amerikanische Gesellschaft. Diese Viertel ebnen also den Zugang. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie nicht von der allgemeinen Infrastruktur abgekoppelt sind und auf diese Weise einen Einstieg in die Gastgesellschaft verhindern.
Die Bundesagentur für Arbeit hat dem Vernehmen nach die Befürchtung, dass die freie Wohnortwahl zu Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft führt. Entsprechende Daten sucht man allerdings, was Deutschland angeht, vergeblich. Die Arbeitsagenturen müssen sich verstärkt für die Integration der Flüchtlinge einsetzen. Das gehört zu ihren Aufgaben. Die Beratungsstruktur der Arbeitsagenturen muss sich also gründlich verändern und auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge zugeschnitten werden. Nicht die Flüchtlinge müssen ans System angepasst werden, sondern die Verwaltung an ihre Kundschaft. Das wird noch eine anspruchsvolle Aufgabe für die Arbeitsagenturen werden.
Zur Integration gehören Arbeit und ein sicherer Aufenthaltsstatus. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Die Aussicht, dass viele Asylbewerber unter Umständen noch Jahre auf die endgültige Abarbeitung ihres Antrages werden warten müssen, macht einen ratlos. Die menschenrechtliche Situation in Deutschland ist unzumutbar. Die Registrierungsstelle In Heidelberg, die innerhalb von wenigen Tagen die Neuankömmlinge registriert und ihren Asylantrag entgegennimmt, zeigt dagegen, wie es auch gehen kann: nämlich zügig und unter Beachtung aller Rechtsvorschriften. Dort zeigt sich, dass wir die geeigneten Verfahren haben; diese aber aufgrund von Engpässen auf Verwaltungsseite nicht umgesetzt werden können. Ich halte gar nichts von immer neuen Gesetzesverschärfungen, wenn nicht einmal die bestehenden Regelungen angemessen umgesetzt werden können.
Ohne Registrierung geht eben gar nichts, vor allem keine Integration den Arbeitsmarkt. Menschen ohne Arbeit fühlen sich aber ausgegrenzt, wertlos und nicht willkommen. Sie werden Deutschland nicht durch eigenes Begreifen kennen lernen können. Darum ist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt die vorrangige Aufgabe für die deutsche Gesellschaft. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Aufgabe gemeinsam gelöst werden kann.