Rede · 19.06.2003 Soziale Sicherungssysteme

Obwohl erst Ende 2002 die Beiträge für die Renten- und Krankenversicherung wieder erhöht wurden, gibt es seit Wochen alarmierende Meldungen über dramatische Defizite in diesen Kassen. Das ging sogar so weit, dass Experten davor warnten, die Renten könnten schon im Herbst nicht mehr ausgezahlt werden. Trotz einer Nullrunde und trotz Leistungskürzungen haben auch die Krankenkassen wieder ein Millionen-Loch angesammelt. Die Arbeitslosenversicherung muss in diesem Jahr mit mehreren Milliarden € von der Bundesregierung unterstützt werden, und auch die Pflegeversicherung hat einen Millionen-Unterschuss zu verzeichnen. Was noch schlimmer ist: Wenn sich die Konjunktur nicht schnell erholt und die Arbeitslosigkeit entscheidend reduziert wird, dann müssen die Sozialversicherungen trotz der vielen Bemühungen der Bundesregierung wahrscheinlich am Jahresende wieder ihre Beiträge erhöhen. Es mehren sich die Stimmen, die von einem Offenbarungseid unseres Wohlfahrtsystems sprechen.

Denn die aktuellen Vorschläge sowohl von der Bundesregierung als auch von der Opposition zur Lösung dieser vielen Krisenherde in unserem Sozialsystem – von der Agenda 2010 zur Privatisierung des Krankengeldes, von der Erhöhung der Tabaksteuer bis hin zur Eigenleistung beim Zahnersatz haben eines gemeinsam: Sie sind ein mühsames Herumdoktern an einem todkranken Patienten, aber sie stellen weder die Struktur noch die Finanzierung unseres jetzigen Sozialsystems wirklich in Frage. Genau das wäre aber nach Ansicht des SSW der richtigere Ansatz.

Immer noch basiert das Kernelement unseres Wohlfahrtsstaates auf jenem Modell, das einst von Reichskanzler Otto von Bismarck in den achtziger Jahren des 19. Jahrhundert etabliert wurde: Es knüpft an die Lohnarbeit der Industriegesellschaft an und an den festen Glauben einer Wirtschaft, die immer wächst. Schon seit der Ölkrise in den 70ér Jahren, aber spätestens seit des strukturellen Umbruchs - von der Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft - sind die Voraussetzungen für dieses Modell nicht mehr gegeben. Dazu kommt noch die Veränderung in der Altersstruktur unserer Gesellschaft, die dazu führt, dass immer weniger junge Menschen immer mehr älteren Menschen gegenüber stehen.

Der blinde Automatismus der letzten Jahrzehnte, bei einem Defizit der Sozialkassen einfach die Sozialabgaben zu erhöhen, funktioniert nicht mehr, vielmehr verschärft er die Krise - insbesondere am Arbeitsmarkt. Denn wir müssen erkennen, dass Sozialabgaben von über 40% eigentlich schon einer Strafsteuer für Arbeit gleichkommen. Da muss ich SPD und Bündnis90/Die Grünen recht geben. Es wird also nicht mehr funktionieren, die Renten- oder Krankenkassenbeiträge einfach weiter zu erhöhen, wenn die Defizite dieser Kassen steigen.

Allerdings hilft es auch nicht weiter, die paritätische Finanzierung in diesen Bereichen aufzuheben, um die Kosten allein auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzuwälzen. Wir meinen also, dass die Agenda 2010 und die vielfältigen Überlegungen der Union viel zu kurz greifen, weil sie die versicherungsbasierte Finanzierung der Sozialsysteme nicht in ihrer Grundausrichtung ändern. Aus unserer Sicht gibt es angesichts dieser Fakten nur eine Konsequenz: Wir müssen uns vom Sozialstaat bismarckscher Prägung verabschieden.

Auch in der öffentlichen Debatte der letzten Monate gibt es Überlegungen in dieser Richtung. So hat der Berater der Bundesregierung, Professor Rürup, erst kürzlich vorgeschlagen, die Pflegeversicherung ganz abzuschaffen und diesen Bereich neu zu organisieren. Auch Ministerpräsidentin Heide Simones hat in ihrem neuen Buch eine radikale Reform des Sozialstaates mit einer steuerfinanzierten Grundrente gefordert. Alle diese Signale geben Anlass zur Hoffnung, dass die Zeit in Deutschland reif ist, nach neuen Wege einer sozialstaatlichen Ordnung zu suchen.
Dabei wird es keinem in diesem Hohen Hause überraschen, dass sich der SSW bei Lösungsmodellen zur Überwindung der Krise des Sozialstaates nach Skandinavien orientiert. Denn dort ist es gelungen - trotz des gleichen Strukturwandels und der gleichen globalen Herausforderungen sowie einer ähnlichen Altersstruktur der Bevölkerung - durch Reformen, den Sozialstaat im Kern zu erhalten. Natürlich sind wir dabei nicht so naiv zu glauben, dass alles, was unsere nördlichen Nachbarn machen, unbesehen positiv ist, und wir glauben auch nicht daran, dass man einfach das skandinavische Sozialsystem in Deutschland einführen kann.

Aber es lohnt schon mal, einen Blick auf die Grundausrichtung dieses Modells zu werfen, denn es zeichnet sich durch relativ hohe Sozialleistungen, durch niedrige Lohnnebenkosten und eine geringe Arbeitslosenquote aus. Dabei ist insbesondere die Finanzierung des Wohlfahrtssystems interessant. In Dänemark haben wir einen Mehrwertsteuersatz von 25%, die Einkommenssteuersätze bewegen sich zwischen 40 und 50%, und es gibt viele ökologische Steuerarten, die wir bei uns in der Bundesrepublik überhaupt nicht kennen.

Dennoch verdient ein dänischer Arbeitnehmer im Schnitt bei gleichem Lohn netto nicht weniger als sein deutscher Kollege, und vergleicht man die Abgaben- und Steuerlast der beiden Länder, gibt es kaum größere Unterschiede. Der entscheidende Unterschied liegt bei den Lohnnebenkosten der Unternehmen. Während die deutschen Firmen bei einem Beschäftigten auf rund 80% Lohnnebenkosten zusätzlich zu den Lohnkosten kommen, liegen diese in Dänemark in etwa zwischen 40% und 50% .
Diese Fakten sind zusammen mit dem flexibleren Kündigungsschutz eine der Hauptursachen, warum in Dänemark die Einstellungsschwelle für Arbeitslose viel geringer ist als bei uns. Selbstverständlich ist auch das dänische System nicht ohne Probleme, und die Klagen der Menschen über zu hohe Steuern haben in den letzten Jahren zugenommen. Auch die Altersstruktur der Bevölkerung, und damit der mögliche zukünftige Mangel an qualifizierten Arbeitskräften ist ein Problem, das heftig diskutiert wird.

Sicherlich werden auch die skandinavischen Länder in Zukunft nicht alle Errungenschaften des Sozialstaates erhalten können. Der globale Wettbewerb fordert auch hier seinen Preis. In Schweden ist man schon teilweise Ende der 80ér Jahre angefangen, einige soziale Leistungen zu reduzieren. Auch in Norwegen und Dänemark gibt es Diskussionen über einen Rückbau von sozialen Wohltaten. Oft wird in der öffentlichen Debatte darauf hingewiesen, dass man unbedingt die wirklich Schwachen schützen muss und nicht die Sozialleistungen an die Mittelklasse des Landes verteilen sollte. Dennoch gibt es in breiten Schichten der Bevölkerung und über die Parteigrenzen hinweg eine große Einigkeit dahin gehend, dass das soziale Grundmodell unbedingt erhalten werden muss.

Unser Hauptargument, warum man sich auch von deutscher Seite einige Elemente des skandinavischen Sozialsystems aneignen sollte, liegt insbesondere in der Flexibilität des Modells, das sich sehr schnell an neue Herausforderungen anpassen kann. Das wird in Zukunft angesichts des weltweiten Wettbewerbs wichtiger sein denn je.
Der SSW fordert also einen grundlegenden und sozial gerechten Umbau des Sozialstaates mit einer steuerfinanzierten sozialen Grundsicherung bei der Alters- und Krankenversorgung, wie sie in den skandinavischen Ländern praktiziert wird. Dabei muss der Kernpunkt einer solchen Umstellung eine Erhöhung der Mehrwertssteuer sein, die in einem ersten Schritt ausschließlich zur Entlastung der Renten-, Kranken- Arbeitslosen- und Pflegeversicherungen benutzt wird. Hier begrüßen wir, dass die Landesregierung und die regierungstragenden Fraktionen in Schleswig-Holstein das ähnlich sehen. Aber leider müssen ihre Parteikolleginnen und -kollegen in Berlin noch überzeugt werden.

Weiter fordern wir in unserem Antrag, dass das System so weit es in Zukunft noch teilweise beitragsfinanziert bleiben sollte – denn realistischerweise werden wir nicht von heute auf morgen das paritätische System abschaffen können - in einem zweiten Schritt durch eine Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage gestärkt wird. Damit meinen wir, dass alle Bürgerinnen und Bürger zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden sollen – und nicht nur die Arbeitnehmer. Das ist übrigens ja auch das Grundprinzip eines steuerfinanzierten Sozialsystems. Wir sind auch der Meinung, dass der notwendige Umbauprozess der Sozialsysteme so weit wie möglich von den Leistungsfähigen in unserer Gesellschaft unterstützt werden muss. Dazu trägt zum Beispiel eine maßvolle Erhöhung der Erbschaftsteuer bei - mit angemessenen Freibeträgen für den Mittelstand und die Eigentümer von Einfamilienhäusern.

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