Rede · 12.07.2001 Stammzellenforschung und Import embryonaler Stammzellen

Verlockend erscheinen die Perspektiven, die die Stammzellforschung bietet. Schreckliche, bisher unheilbare Krankheiten wie die Parkinsonsche Schüttellähmung ließen sich vielleicht kurieren. Obwohl bis heute nicht klar ist, ob die Stammzellentherapie wirklich diese Heilsversprechen einlösen kann, weckt sie Hoffnung bei vielen Menschen. Niemand von uns wünscht sich nicht eine Heilung für die betroffene Kranken und deren Angehörige. Das Glück dieser Mitmenschen wäre uns viel Wert, und so lassen wir uns auf den Gedanken ein, durch embryonale Stammzellen eine Medizin zu finden.

Die gesundheitliche Unversehrtheit ist ein hohes Gut, und deshalb müssen triftige Gründe dagegen sprechen, die Suche nach Methoden der Heilung und Linderung zu verbieten. Wer sich aber trotzdem letzten Endes von den Einwänden gegen die Stammzellenforschung überzeugen lässt, ist aber kein schlechterer Mensch. Es gibt auch die Möglichkeit, dass die zu erwartenden negativen Folgen schwerer wiegen als eine erfolgversprechende Therapie. Letztlich besteht kein moralischer Rechtsanspruch auf Gesundheit um jeden Preis. So hart dieses auch für die Betroffenen ist: Es muss Grenzen der medizinischen Therapie geben. Diese Grenzen können nicht mit Blick auf bestimmte Krankheiten gezogen werden. Das wäre eine unzulässige Selektion von Menschenleben. Es muss aber zulässig sein, bestimmte Technologien abzulehnen.

Mit der Stammzellforschung stehen wir vor Entscheidungen, deren Folgen sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Wir alle wissen, dass solche Technologien auch im menschenverachtenden Sinne missbraucht und weiterentwickelt werden könnten. Niemand glaubt, dass sie sich wieder einsammeln lassen. Wir reden hier über Geister, die sich mit noch so viel Gewalt nicht wieder ins Reagenzglas zurückbringen lassen. Deshalb müssen wir uns gut überlegen, ob sie gut oder böse sind, bevor wie sie rufen.

Fragen von so grundlegender Natur müssen von der Politik beantwortet werden. Wenn wir es ernst meinen mit der Demokratie, dann muss der Gesellschaft auch die Möglichkeit gegeben werden, stopp sagen zu können. Die Fragen des Umgangs mit embryonalen Stammzellen oder der PID berühren so fundamentale Fragen, dass sie letztlich auch nicht allein von denen entschieden werden können, die lediglich auf Zeit vom Volk gewählt worden sind. Die Aufgabe der Politik sollte sich daher darauf beschränken, diesen Prozess zu moderieren. Parteien und Parlamentarier sind aufgerufen, ihre sich auf die ursprüngliche Definition ihres Auftrages zu besinnen: den Willen der Bevölkerung zu kanalisieren und zur Willensbildung beizutragen. Dieses kann nur geschehen, in dem man eine möglichst breite Debatte führt, bevor das Parlament beschließt. Die Entscheidung muss dann letztlich im Bundestag fallen und nirgendwo anders. Es ist seine Aufgabe, sich so weit wie möglich von tagespolitischen Überlegungen oder Parteitaktik freizumachen und eine Richtungsentscheidung zu treffen, die dann akzeptiert werden muss.

Es hat in der Bundesrepublik schon einmal einen Prozess der Konsensfindung in dieser Frage gegeben. Als Mitte der 80er Jahre die Reagenzglasbefruchtung eine Realität wurde, stellte sich erstmals die Frage nach den moralischen und juristischen Rechten von frühen Stadien menschlichen Lebens. Was bereits in der Abtreibungsdebatte zur Diskussion stand - ab wann gibt es die Menschenwürde? - wurde hier auf die Spitze getrieben. Der damalige Konsens, mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts errungen, lautete: Ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist grundlegend von menschlichem Leben auszugehen. So problematisch diese Definition in Verbindung mit Schwangerschaftsabbrüchen oder manchen Verhütungsmitteln war und ist, weil sie dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen die Rechte eines anderen Lebewesens gegenüberstellt, so überzeugend ist auch diese Argumentation. Denn wer möchte sich wirklich anmaßen zu entscheiden, zu welchem späteren Zeitpunkt der Embryo zum Mensch wird? Hier tut sich ansonsten ein Dilemma der Selektion in menschenwürdiges und nicht menschenwürdiges Leben auf, das kaum schlüssig zu beantworten ist.

Bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen werden Embryonen „verbraucht“, wie die Wissenschaft euphemistisch formuliert. Das Leben der Zellen wird getötet. Hierin liegt eines der wesentlichen Probleme dieser Forschung, denn damit wird die bisherige moralische Grenze überschritten. Bisher konnte allein die Notlage einer Frau schwerer wiegen als die Schutzrechte eines Embryos. Dieser bisherige Konsens ist aber jetzt von prominenten Vertretern aus Wissenschaft und Politik gekündigt worden, weil die wissenschaftliche Entwicklung heute ganz wo anders steht ist. Man gewichtet den erhofften medizinischen und ökonomischen Nutzen neuer Verfahren höher als das Leben der Embryonen. Da die technischen Möglichkeiten sich wandeln, und die Ethik in einem säkularen Staat eine dynamische Größe ist, ist es auch durchaus legitim, diese ethischen Fragen immer wieder neu zu verhandeln.

Die Bedingung ist dann aber, dass diesem neuen Prozess der Konsensfindung auch genügend Zeit eingeräumt wird. Die Meinungsbildung darf nicht mit Argumenten totgeschlagen werden, wie „die Zeit läuft uns davon, das Ausland ist schneller“. Es gibt nämlich viele Fragen zu klären, bevor man verantwortungsvoll den Weg für eine solche Entscheidung geebnet hat.

Es stellt sich durchaus nicht nur die ethische Frage nach den Folgen für das Embryo. Es stellen sich auch Fragen der Folgewirkungen insgesamt - zumindest jenen die wir überschauen können. Denn jegliche Technologie hat die Eigenart, dass sie eine Menge nichtbeabsichtigter Folgen zeitigt, Nebenwirkungen die keiner einkalkuliert hat. Das gilt sowohl im Sinne der unmittelbaren Wirkung der Eingriffe, wie auch für die weitere Entwicklung der Technologie und gesellschaftliche Veränderungen. Ich möchte nur einige bisher unbeantwortete Fragen nennen:

· Besteht eine ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie mit embryonalen Stammzellen wirklich erfolgreich werden kann, und besteht die Chance, bei den menschlichen Zellen jene erheblichen Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen, die man bei den Mäusen nicht steuern kann?

· Ist es ethisch vertretbar, lebende menschliche Zellen als Medizin für andere Menschen zu züchten? Auch wenn bisher noch gar nicht erwiesen ist, dass die Stammzellmethoden beim Menschen überhaupt funktionieren – mit Mäusestammzellen geht es ganz gut, mit denen von Rindern und Schweinen nicht so richtig – tut sich hier eine Perspektive auf, bei der menschliches Leben im großen Stil als „Ersatzteillager“ für anderes fungieren kann. Die logische Verlängerung der Stammzellenforschung ist das therapeutische Klonen um z. B. Ersatzorgane zu züchten.

· Wo sollen die Zellen herkommen? Wenn wir uns für die PID entschließen dann wäre es moralisch kaum zu vertreten, nur importierte Eizellen zu verwenden. Sollen also jetzt zukünftig Eizellen gespendet werden für die Forschung?

· Aus der Reagenzglasbefruchtung haben sich Stammzellforschung und PID entwickelt. Was sind die möglichen technologischen Folgen der Stammzellmanipulation?

· Es stellt sich (wie auch bei der PID) die Frage nach einer Einschränkung menschlicher Freiheit. Das Bild vom normalen Menschen wird sich zwangsläufig verschieben. Es besteht die realistische Gefahr, dass diese Normalitätsvorstellungen enger werden, was eigentlich gerade auch einer liberalen Partei Anlass zum Nachdenken sein müsste.

· Es stellt sich die Frage nach den Eigentumsverhältnissen an den Technologien. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der katastrophalen Biopatentrichtlinie, nach der nicht nur Verfahren sondern zum Beispiel auch die manipulierten Zelllinien eines Menschen patentiert werden können.

Es steht vieles auf dem Spiel - zu viel als dass allein das Argument „Forschungsfreiheit“ der Schlüssel zu irgendwelchen der brennenden Fragen wäre. Dieses gilt umso mehr, als dass die von der Politik eingeforderten kurzen Wege zwischen der Forschung und deren Verwertung natürlich auch zur Folge haben, dass diese beiden Größen zunehmend enger verquickt werden. Wissenschaftlicher Erkenntnisdrang und Patentrechte gehen neue Allianzen ein, die zumindest im Rahmen so komplexer und fundamentaler ethischer Fragen das Argument der Forschungsfreiheit relativieren.

Durch die Einrichtung einer Enquetekommission des Bundestages - und durch die weniger parlamentarisch korrekte Berufung der Ethikkommission der Bundesregierung - hat die Bundespolitik sich darum bemüht, Wissen als Entscheidungsgrundlage zusammenzutragen. Die aktuelle Debatte in und über die Medien trägt dazu bei, die Bürgerinnen und Bürger zu informieren und ihnen eine fundierte Willensbildung zu ermöglichen.

Gerade weil der Prozess noch im Gange ist, halten wir es für falsch, jetzt schon die großen Bekenntnisse für oder gegen die Stammzellenforschung vorzutragen. Selbstverständlich soll sich auch der Landtag eine Meinung bilden und diese als ein Mosaiksteinchen in die breite Debatte einbringen. Letztlich gebietet aber der Respekt vor dem Souverän, dass wir erst einmal die Aufklärungsarbeit des zuständigen Parlaments abwarten, bevor wir unser Urteil zu Markte tragen. Der SSW wird kein abschließendes Urteil abgeben, bevor wir die Erkenntnisse und Voten der Kommissionen kennen und diese die Meinungsbildung in der Bevölkerung befruchtet haben. Das gebietet unserer Respekt vor den demokratischen Entscheidungsprozessen.

Gerade weil wir meinen, dass die letzten Worte nur im Reichstagsgebäude - und eventuell im Bundesrat - fallen können, unterstützen wir auch die von der CDU gestellte Forderung nach einem Moratorium für den Import embryonaler Stammzellen. So lange das Parlament noch nicht entschieden hat, macht es keinen Sinn, diese Zellen zu importieren – und es ist zudem ein falsches Signal. Ein Appell an die Forscher allein, wie von SPD und Grünen vorgeschlagen, ist eines Parlaments kaum würdig. Die von der FDP eingeforderte Forschungsfreiheit ist ein hohes Gut und soll undemokratischen Missbrauch verhindern. Sie findet aber ihre Grenzen, wo der Gesetzgeber Einhalt gebietet.

Die Politik muss in einer solchen Frage das letzte Wort einfordern, sonst nehmen wir selber die parlamentarische Demokratie nicht mehr ernst.

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