Rede · 19.06.2002 Volksinitiative für eine menschenwürdige Pflege
Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wer aber den Alltag in der Pflege kennen gelernt hat, weiß, dass die Realität nicht immer diesem Anspruch gerecht wird. Dafür gibt es viele Gründe: Manchmal liegt es am Leistungsrecht, das die Menschen in Schubladen steckt, ohne ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu sehen und sich Zeit für den Einzelnen zu nehmen. Manchmal liegt es an den pflegenden Menschen, die vielleicht nicht gelernt haben und nicht wissen können, was heute alles zu einer menschenwürdigen Pflege gehört. Manchmal liegt es an den Leitungsanbietern, die es selbst versäumt haben, nach der Qualität in ihrer Pflege zu fragen. Manchmal liegt es an den Angehörigen, die schlicht überfordert sind. Und manchmal Gott sei Dank nicht so häufig liegt es an der fehlenden Moral und der kriminellen Energie derjenigen, die mit der Pflege und Betreuung hilfloser Menschen Geld verdienen. Es gibt viele Gründe für Unmenschlichkeiten in der Pflege, und ebenso vielschichtig müssen die Antworten auf die Probleme ausfallen.
Weil der Artikel 1 des Grundgesetzes nicht dazu beitragen konnte, Missstände in der Pflege zu verhindern, haben zwei Wohlfahrtsverbände eine Volksinitiative ins Leben gerufen: Das Recht auf eine menschenwürdige Pflege soll ausdrücklich in die Landesverfassung und das Landespflegegesetz geschrieben werden. Die Volksinitiative sammelte ungefähr 45.000 Unterschriften und hätte auch keine schlechten Chancen, wenn es zu einem Volksentscheid käme.
Wir erkennen an, dass es eine deutliche außerparlamentarische Bekundung dafür gibt, die menschenwürdige Pflege in die Landesverfassung aufzunehmen. Wir respektieren das offensichtlich eine Mehrheit in der Bevölkerung den Wunsch hat, den moralischen Anspruch auf eine menschenwürdige Pflege in der Verfassung des Landes und dem Landespflegegesetz festzuschreiben. Wir meinen, dass der Landtag dem folgen soll. Aber wir wollen auch deutlich machen, dass wir die Gesetzesänderung auch mit einer gesunden Portion Skepsis sehen.
Bei Verfassungsänderungen stehen wir immer vor dem Dilemma, dass es viele gute Absichten gibt, die Verfassung aber nicht alles aufnehmen kann. Eine Verfassung soll kein Poesiealbum sein, in das jeder einen schönen Spruch und gute Wünsche schreiben darf. Deshalb gibt es ja auch die Hürde der Zweidrittel-Mehrheit. Eine Verfassung muss Prioritäten setzen. Sie nennt die wichtigsten und obersten Ziele des Staates, und muss deshalb die verschiedenen Belange gewichten. Wir meinen, dass es eine Reihe von Zielen gibt, die mindestens genau so wichtig sind wie die Pflege. Deshalb haben wir auch den vorliegenden Entschließungsantrag eingebracht. Wir wollen unterstreichen, dass es andere Themen gibt, die für uns ebenso sehr wenn nicht noch mehr die Aufnahme in die Landesverfassung verdient haben. Das machen wir aber nicht, in dem wir die Willensbekundung der Bevölkerung zurückweisen, sondern in dem wir unsere Prioritäten klar aufzeigen. Zu den wichtigsten Punkten gehört für uns Schutz und Förderung der autochtonen Minderheiten und die Gleichstellung sozialer Minderheiten.
Für den SSW ist glasklar, dass die dringendste Erweiterung der Landesverfassung der Schutz und die Förderung für die Sinti & Roma ist. Es ist wirklich beschämend, dass es bis heute nicht gelungen ist, die dritte Minderheit in Schleswig-Holstein neben Friesen und Dänen gleichberechtigt in die Landesverfassung aufzunehmen. Dafür gibt es keine vernünftigen Gründe es sei denn man folgt den erheblichen Vorurteilen, die heute immer noch bestehen. Wir werden jedenfalls die Hoffnung nicht aufgeben, dass die FDP und insbesondere die Union in dieser Frage noch eines Tages zur Vernunft kommen. Die sture Ablehnung ist ein Armutszeugnis für eine Partei, die immer wieder gern über Moral und Werte doziert. Es ist Zeit für Taten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
Gerade der Minderheitenschutz zeigt aber auch auf, dass goldenen Worte in der Verfassung allein keine Probleme lösen. Eine Staatszielbestimmung begründet zwar einen moralisches Recht auf Schutz und Förderung des Staates, einen rechtlichen Anspruch auf eine bestimmte Behandlung kann man aber daraus nicht ableiten. Das wissen wir aus leidlicher Erfahrung mit dem Artikel 5 der Landesverfassung. Zudem ist die Formulierung der Volksinitiative für eine menschenwürdige Pflege ja auch so abgeschwächt worden, dass sich keine konkreten Rechtsansprüche daraus ableiten lassen. Das können wir nämlich gar nicht leisten. Deshalb hoffen wir sehr, dass diese Volksinitiative keine Hoffnungen geweckt hat, die sich mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht befriedigen lassen. Gerade weil die Verfassungsänderung und die Präambel im Landespflegegesetz nicht zwangsläufig schon Verbesserungen mit sich bringen, können sie leicht dazu beitragen, den Frust gegen die Politik zu richten. Wir können nicht per Gesetz die optimale Pflege durchsetzen.
Die Pflege steht aber nicht erst seit Gründung der Volksinitiative durch zwei Leistungsträger ganz oben auf der Tagesordnung. Die heutige Debatte ist ein Ausläufer der mittlerweile mehrere Jahre laufenden Debatte über die Pflegequalität und Pflegemissstände. Es ist auch schon vieles unternommen worden, um die Qualität in der Pflege zu verbessern. Insofern drücken wir mit der Zustimmung zum Ansinnen der Volksinitiative zuerst aus, dass wir diesen Weg für eine menschenwürdige Pflege weiter beschreiten wollen:
Die pflegenden Menschen müssen durch Qualifikation lernen, was heute alles zu einer menschenwürdigen Pflege gehört und sie müssen auch humane Arbeitsbedingungen haben. Das Leistungsrecht muss endlich reformiert werden, damit es auf die tatsächlichen Bedürfnisse des Einzelnen Rücksicht nimmt und den Pflegenden wieder Raum für menschliche Kontakte lässt. Die Anbieter müssen lernen, die Qualität ihrer Dienstleistungen zu sichern. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen müssen Unterstützung und Beratung finden. Unmoralische oder gar kriminelle Pflegeanbieter sollen durch mehr Kontrolle aus dem Verkehr gezogen werden. Letztlich müssen die pflegebedürftigen Menschen überhaupt wieder mehr in die Mitte der Gesellschaft geholt werden. Dazu kann jede und jeder Einzelne einen Beitrag leisten.
Es ist klar, dass der Landtag das alles gar nicht regeln kann. Die vielen Probleme und die vielen Beteiligten wird dieser Gesetzentwurf nicht verändern. Insofern ist die Volksinitiative für eine menschenwürdige Pflege in erster Linie ein Zaunpfahl, mit dem wir markieren wo für uns die Grenzen einer humanen Gesellschaft verlaufen - und mit dem wir Politikern, Verwaltungsleuten und Verbandsvertretern auf allen Ebenen zuwinken, um sie an die Verantwortung einer humanen Gesellschaft für die Pflegebedürftigen zu erinnern.